THE WELL-TEMPERED CLAVIER I
Wenn man Ihre früheren CD-Programme und nicht zuletzt ihr letztes, sehr erfolgreiches Album «Grenzgänge» Revue passieren lässt, so fällt auf, dass die Werke Johann Sebastian Bachs einen festen Bezugspunkt für die Pianistin Alexandra Sostmann bilden. Bach ist fast immer dabei.
Von daher war es nur konsequent, dass sie sich nun nach einer ausführlichen und intensiven Auseinandersetzung mit dieser Musik ins Studio begab, um eine Gesamtaufnahme eines seiner Hauptwerke aufzunehmen: den ersten Teil des «Wohltemperierten Claviers», vom Komponisten im Jahr 1722 fertiggestellt.
Die Präludien und Fugen aus dem Wohltemperierten Clavier begleiten die Pianistin schon ein Leben lang, hat sie immer wieder gespielt. Aber sich mit ihnen so intensiv zu beschäftigen, ist nochmal etwas ganz anderes. Vor allem stellt sich im Zusammenhang mit der barocken Aufführungspraxis die Frage: Wie setzt man das auf dem modernen Instrument um? Alexandra Sostmann war klar, dass sie ihr Konzept nicht romantisch anlegen will, da sie gewisse Romantisierungen immer schon gestört haben. Bach fordert zwar selbst im Vorwort zu seinen Inventionen und Sinfonien ein «kantables Spiel», das es zu erlangen gilt, aber diese Formulierung ist nach Ansicht der Pianistin oft missgedeutet worden. Bachs Schüler sollten eine «cantable Art im Spielen erlangen», das heisst, eine «Musizierweise anstreben, die einem Duo oder Trio menschlicher Stimmen gleichkommt, von denen jede für sich auf eine gut artikulierte und ausdrucksvolle Manier gestaltet werden soll».
Und genau da fangen ihrer Meinung nach die Schwierigkeiten an: Alle 48 Stücke des ersten Bandes des Wohltemperierten Claviers ganz individuell zu artikulieren, zu phrasieren, eben zu gestalten, das ist eine große Herausforderung. Alexandra Sostmann: «Dann kann man auf einmal Glenn Gould verstehen, der gemeint hat, er würde Händel nur noch auf dem Cembalo einspielen, weil das auf dem Klavier so viel mehr Arbeit bedeutet. Ja – das durfte ich jetzt auch in Bezug auf Bachs WTC wirklich erfahren.»
Johannn Sebastian Bach: Das Wohltemperierte Clavier, Band I
Präludien & Fugen BWV 846 – BWV 869
Alexandra Sostmann, Klavier
Prospero, 2023
Bestell-Nr.: PROSP0075, 4262353970348
2 CD Digipack mit 36 Seiten Booklet
Vertrieb in Deutschland: Note 1
Vertrieb in der Schweiz: MusiKontakt


Die Künstlerin hat sich für ihr Projekt intensiv vorbereitet, hat sich mit Experten für Alte Musik vor allem in aufführungstechnischen Fragen beraten und auseinandergesetzt. Aber auch inhaltliche Aspekte haben sie sehr beschäftigt und großen Einfluss auf ihre Interpretation genommen. Die Künstlerin:
«Professor Grigory Gruzman hat mir eine Abhandlung des ukrainischen Musikwissenschaftlers Boleslaw Javorskyj zugänglich gemacht, von der es bis heute leider keine Übersetzung gibt. Javorskyj hat dort Parallelen zwischen dem Wohltemperierten Clavier und den Passionen, Kantaten und der h-Moll-Messe dargestellt, was ungemein anregend ist. Zum Beispiel bringt er Präludium und Fuge in fis-Moll mit dem Golgatha-Abschnitt der Matthäus-Passion in Verbindung, wo die Menschen Jesus nach Golgatha treiben. Das passt gut zu den pausenlosen Sechzehntelketten, und wenn man sich überlegt, wie sie ihn anpeitschen, dann kann man sich das absolut vorstellen. Und die Fuge hat ja mit ihrer Chromatik und dem seufzerartig absteigenden Kontrapunkt ganz klar Passionscharakter. Das alles hat mir auch beim Spielen und beim Erarbeiten sehr geholfen.»
Natürlich gab es während des Aufnahmeprozesses dieses Riesenwerkes auch Tiefen, viele Fragen und auch Selbstzweifel. Doch die Künstlerin konnte am Ende alle diese «Tiefpunkte» überwinden: «Es war schon anspruchsvoll, sich in jedes der 48 Stücke hineinzudenken und bis ins letzte Detail auszuarbeiten. Zwischendurch habe ich gedacht, ich höre auf, ich schaffe das nicht. Auf der anderen Seite ist es aber auch eine große Bereicherung gewesen, die ich nicht mehr missen möchte. Es gab auch keinen Tag, an dem ich gerne etwas Ablenkung gehabt hätte. Bach lässt beim Spielen nicht die geringste Ablenkung zu. Man ist sofort raus. Das geht nur im Flow, im Hier und Jetzt, wahrhaftig und uneitel. Nur dann kann’s was werden. Das ist eine Erfahrung, die ich so noch nicht gemacht hatte.»